Passt sie überhaupt noch zu unserer Gesellschaft?

Orchester-Hierarchie bedeutet heute – ganz grob – folgendes:

  1. Vorne steht der Dirigent, der das Gesamtkonzept (musikalisch, philosophisch, gestalterisch) im Kopf hat und leitet. Alle schauen ihn für Inspiration und große Gesten an. Er leitet die Proben und gibt im Konzert viel Energie, Impulse und Stimmung.

  2. Der Konzertmeister ist musikalisch eher für die Feinheiten verantwortlich. Er soll die musikalische Vorstellung des Dirigenten genau interpretieren und mit Gesten, Bogenstrichen usw. an die anderen vermitteln, damit das Orchester diese präzise und korrekt widerspiegelt. Er spielt auch alle Soli, wenn kein Solist vorhanden ist.

  3. Die Anführer jeder Gruppe (2. Violinen, Violas, Celli, Bässe, die Bläsergruppe usw.) kommunizieren hauptsächlich mit dem Konzertmeister (aber natürlich auch mit dem Dirigenten), damit die Gruppen gut zusammenarbeiten. Neben den Anführern sitzen Musiker, die diese diskret und höchst professionell unterstützen.

  4. Alle anderen folgen genau und sollen ihre eigenen musikalischen Vorstellungen entweder unterdrücken oder an die des Dirigenten anpassen, um sich perfekt zum Gesamtkonzept des Dirigenten beizutragen.

  5. Die Positionen (Konzertmeister, neben dem Konzertmeister, 1. Geige, 2. Geige usw.) sind fixiert – manchmal jahrelang.

Wenn heute ein „Orchester“ zusammengerufen wird, wird ungefähr diese Struktur automatisch eingestellt, weil die Leute daran gewöhnt sind.

Dirigent oder nicht?

Für mich aber, als „reine“ Barockgeigerin (ich spiele gar keine „moderne“ Geige mehr) wirkt diese Struktur fremd. Ich wundere mich jedes Mal, wenn ich ein Barockorchester sehe, in dem die Musiker sich um historische Instrumente und Spielweisen gekümmert und sich darauf spezialisiert haben, und trotzdem einen Dirigenten – oft sogar mit Taktstock – vorne stehen haben.

Die Orchester-Hierarchie und das Phänomen „Dirigent“, wie sie heute üblich sind – leider auch unter manchen „Barockorchestern“ –, sind Erfindungen des mittleren 19. Jahrhunderts und entstanden aus den damaligen musikalischen und sozialen Bedingungen. Meiner Meinung nach passen sie aus sowohl musikalischen als auch sozialen Gründen weder zur Barockmusik noch zu unserer heutigen Gesellschaft.

Die großen staatlichen Orchester spielen heutzutage hauptsächlich Musik ab 1830. Für sie ist der Dirigent mit Taktstock daher keine ungeeignete Sache – der Taktstock wurde erst um 1830 in Paris üblich, obwohl viele „Dirigenten“ Mitte des 19. Jahrhunderts noch immer eine Papierrolle benutzt haben oder das Orchester vom Klavier oder Orgel oder sogar von der Geige aus geleitet haben.

Vor etwa 1800 kamen „Dirigenten“ sehr selten vor. Wenn überhaupt, wurden sie eher „Timekeeper“ genannt und haben genau das gemacht – ganz praktisch mit einer Papierrolle den Takt geschlagen.

„Barock“-Orchester wurden von der ersten Geige oder dem Cembalisten angeführt. Manchmal war diese Person auch der Komponist.

Wer daran Interesse hat, dem kann ich das Buch „Before the Baton“ von Peter Holman sehr empfehlen.

Die interne Hierarchy eines Barockorchesters

Ob die Musiker in den großen staatlichen Orchestern heutzutage mit ihrer internen Hierarchie zufrieden sind – über diesen sozialen Aspekt zu schreiben, bin ich nicht qualifiziert, also lasse ich dieses sehr interessante Thema offen und hoffe, dass jemand, der in einem solchen Orchester selbst spielt, darüber kommentieren könnte.

Worüber ich aber schreiben kann, ist meine persönliche Erfahrung mit Barockorchestern und diese mit den Vorstellungen von namhaften Orchesterleitern aus dem 18. Jahrhundert – zum Beispiel J.J. Quantz, der bevor er als virtuoser Traversflötenspieler und Kapellmeister Friedrichs des Großen seinen großen Ruf erlangte, als Geiger ausgebildet und gearbeitet hat.

Als Barockgeigerin, in den Haag in den 90er Jahren ausgebildet und mit 20 Jahren Berufsleben in London, könnte man davon ausgehen, dass ich viel Erfahrung mit echten Barockorchestern gehabt habe – Nederlands Bachvereniging, La Petite Bande, English Baroque Soloists, New London Consort usw. Leider aber waren all diese Orchester meiner Meinung nach nicht wirklich „Barock“ – sie waren von Dirigenten und sehr festen Orchesterbesetzungen geprägt – also bin ich jetzt der Meinung, dass keines dieser namhaften Orchester wirklich am effektivsten für Barockmusik eingestellt wurde oder ihr volles Potenzial jemals wirklich erreicht hat.

Jetzt ein kleiner Rückblick in meine Vergangenheit…

Was mich am meisten gestört hat, als ich als junge Geigerin anfing, mit „Barock“-Orchestern zu spielen, war, dass manche Leute sich entwickeln durften und andere nicht. Die meisten Musiker mussten da sitzen und immer zuhören, wie ein paar Kollegen die Soli immer besser (oder leider manchmal nicht immer besser!) spielten. Diese Leute wurden gefördert, damit sie ihr volles Potenzial erreichen konnten, und waren nach dem Konzert natürlich in bester Stimmung, inspiriert und voller Energie …

Und die anderen? Die haben das alles möglich gemacht, auf Kosten ihrer eigenen persönlichen Entwicklung.

Später, als ich selber Konzertmeisterin wurde, hatte ich weder den Mut noch die Erlaubnis, anderen Musikern Chancen zu geben, weil tatsächlich der Dirigent der Chef war. Ich nicht.

Wie funktionierte es dann im 18. Jahrhundert?

Stellen Sie sich aber vor, wie es wäre, wenn jeder Einzelne im Orchester richtig gefördert würde und sein volles Potenzial erreichen könnte: Was für ein Orchester wäre das?

Ich glaube, auf diese Weise könnten wir den erfolgreichsten Barockorchestern des 18. Jahrhunderts am nächsten kommen, weil es damals tatsächlich eine wichtige Aufgabe eines guten Konzertmeisters war, jeden Einzelnen zu entwickeln und zu fördern. Da es damals keine Dirigenten gab, hatte der Konzertmeister, der auch selbst einmal als Tutti-Spieler im Orchester gespielt hat und richtig verstanden hat, wie es im Orchester funktioniert, nicht nur die volle Kontrolle, sondern auch das Bedürfnis, andere auszubilden. Er war vor allem zuständig für die Entwicklung des Orchesters – das hieß natürlich auch jedes Mitspielers.

So konnte im Jahr 1742 die Mannheimer Hofkapelle von Charles Burney, einem englischen Musikhistoriker und Komponisten, als „Armee von Generälen“ bezeichnet werden. Dieser Ausdruck sollte die außergewöhnliche Fähigkeit und das hohe musikalische Niveau der Orchestermitglieder hervorheben, die für ihr individuelles Talent und ihre kollektive Präzision bekannt waren. Das Mannheimer Orchester, unter der Leitung von Johann Stamitz (1717–1757, Komponist und Violinist), war übrigens äußerst einflussreich bei der Entwicklung des klassischen Stils und besonders für seine Innovationen in der Orchesterdynamik und -technik bekannt.

Dazu aber ein paar wichtige Punkte:

  1. (Orchester-) Musiker waren damals anders ausgebildet: Viele Musiker der Mannheimer Hofkapelle (oder anderer namhafter Orchester damals) waren auch Komponisten oder konnten komponieren. Daher haben sie die Musik durch und durch verstanden – sie waren nicht nur Instrumentalisten, sondern auch wahre Musiker mit tiefem Verständnis dafür, wie Komposition funktioniert. Sie waren auch nicht daran gewöhnt, die musikalische Verantwortung einem anderen (z.B. einem „Dirigenten“) zu überlassen – diese Strukturen gab es damals nicht. Alle Musiker mussten also für sich selbst denken und die eigene musikalische Verantwortung übernehmen können. Musiker dieser Zeit waren vielseitig ausgebildet, beherrschten mehrere Instrumente und konnten sowohl als Solisten als auch in verschiedenen Ensembles effektiv arbeiten.

  2. Unter dem Wort „Talent“ verstehen wir heutzutage etwas anderes: Wenn man originale Stimmen oder Faksimiles von damals anschaut, sieht man extrem selten Striche oder Bleistiftmarkierungen – die Musiker haben die Musik verstanden und richtig spielen können, ohne zu kritzeln. Unter „Talent“ verstand man damals nicht das Auswendigspielen von technisch herausfordernden Stücken von jemand anderem, sondern das tiefe Verständnis der Musik, wobei jeder Einzelne in der Lage war, jede Stimme zu spielen, zu verstehen und sogar selbst zu komponieren.

Wie sah ein echtes Barockorchester aus?

Interessant zu lesen ist die Beschreibung von J.J. Quantz im Jahr 1752 über die verschiedenen Aufgaben der Orchestermusiker:

Kapitel XVII aus „Versuch einer Anweisung die Flötetraversiere zu spielen“ (1752):

Natürlich gehörte der Dirigent, wie wir ihn heute verstehen (ein Mann mit Taktstock – der Taktstock wurde erst etwa 1830 in Frankreich üblich), gar nicht dazu. Das Orchester – ob kleines Kammerorchester mit 4 Violinen oder ein größeres Orchester bei der Oper mit 13 Violinen – wurde immer entweder von der ersten Geige oder dem Cembalisten oder beides angeführt. Der Anführer konnte auch der Komponist des Stückes sein, aber das war nicht immer der Fall.

Quantz, der auch als Geiger ausgebildet war und gearbeitet hat, beschreibt unter anderem, wie wichtig es in einem guten Orchester ist, auch gute Solisten dabei zu haben, und wie ein guter Konzertmeister diese quasi „ausbilden“ soll, indem er ihnen immer wieder Gelegenheiten gibt, bei Konzerten Solos zu spielen.

„Der Glanz eines Orchesters wird aber auch besonders vermehrt, wenn sich gute Solospieler auf verschiedenen Instrumenten in demselben befinden. Ein Anführer muss sich also bemühen, gute Solospieler zuzuziehen. Zu dem Ende muss er denen, die im Stande sind, sich allein hören zu lassen, öfters Gelegenheit geben, sich nicht nur insbesondere, sondern auch bei öffentlichen Musiken hervor zu tun. Doch muss er sich zugleich bemühen, zu verhindern, dass nicht einer oder der andere, wie absonderlich bei jungen Leuten sehr leicht geschehen kann, dadurch zu einer falschen Einbildung verleitet werde, als ob er schon derjenige große Musikus wäre, der er erst mit der Zeit noch werden soll. Sollten auch ja einige einen so unvernünftigen Stolz bei sich fassen, so würde doch ein Anführer übel tun, wenn er um jener willen andere leiden lassen wollte, welche diese Gelegenheit, sich öffentlich zu zeigen, als eine Wohltat, zu ihrem Besten erkennen und zum Nutzen anzuwenden bemüht sind.“

Ich vermute, obwohl Quantz nichts über das Rotieren von erster und zweiter Geige spricht, dass es im Sinne der Ausbildung und des Aufbaus der Orchestergemeinschaft auch sehr wahrscheinlich dazu gehört hat.

Wenn wir schon über die Besetzung und Stellung der Instrumente sprechen, möchte ich auch auf die ausführlichen Empfehlungen dazu hinweisen, die Quantz, auch mit Zeichnungen, im nächsten Paragraphen beschreibt:

„Endlich muss auch ein Anführer die Instrumentisten bei einer Musik gut einteilen, stellen und anordnen können. Auf die nach gehöriger Verhältnismäßigkeit eingerichtete, gute Besetzung und Stellung der Instrumente kommt es viel an. Im Orchesterplatz eines Opernhauses kann der erste Clavicymbal in die Mitte, und zwar mit dem breiten Ende gegen das Parterre und mit der Spitze gegen das Theater gesetzt werden, damit der Spieler desselben die Sänger im Gesicht hat. Zu seiner Rechten kann der Violoncell, zur Linken der Contraviolon seinen Platz haben. Neben dem ersten Clavicymbal zur Rechten kann der Anführer ein wenig vorwärts und erhöht sitzen. Die Violinisten und Bratschisten können von ihm an einen engen länglichen Kreis formen, so dass die letzten mit dem Rücken an das Theater und bis an die Spitze des Clavicymbals kommen, damit sie den Anführer alle sehen und hören können…“

Es folgen mehrere Seiten mit genauen Beschreibungen, wie der Anführer in verschiedenen Situationen das Orchester einstellen soll. Also ohne Dirigent wurde die Platzierung der Musiker nicht (wie heutzutage) mit niedriger oder höherer Rang verbunden, sondern aus rein praktischen Gründen getroffen. Die erste und zweite Geige im Opernorchester stehen sich gegenüber, die erste mit dem Rücken zum Publikum. Der Kontrabass und der Cellist spielen auf beiden Seiten des Cembalisten (bei Opern gab es immer zwei Cembali) usw.

Relevanz heutzutage?

Dass wir heutzutage Musik von vor 300 Jahren überhaupt spielen, ist schon ein faszinierendes Phänomen – und eine sehr schöne Sache. Mit modernen Kommunikationsmitteln, Ausbildung und verbesserten allgemeinen Lebensbedingungen sind wir im 21. Jahrhundert in der Lage, unser kulturelles Erbe wiederzuentdecken und wahrzunehmen. Das tut unserer Gesellschaft unglaublich gut – es fasziniert und inspiriert uns.

Müssen wir in der Barockmusik jedoch die gleiche Hierarchie widerspiegeln, wie sie in den Symphonieorchestern des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde?

Oder haben wir mit den neu erfundenen Barockorchestern eine einzigartige Gelegenheit, die spezifischen Gaben und Talente jedes Einzelnen wahrzunehmen, das Beste aus jedem herauszuholen und dabei nicht nur musikalische, sondern auch menschliche Spitzenleistungen von unvorstellbarer Kraft zu erreichen?

Es ist meine Überzeugung, dass auf diese Weise das Barockorchester sogar als Inspiration für eine moderne musikalische Vorgehensweise dienen könnte, wodurch eine Wiederbelebung und Relevanz der klassischen Musik in unserer Gesellschaft sehr gefördert würde.